Nach der Flucht und Vertreibung aus Westpreußen und Pommern – Auszüge aus Familienbriefen

In dem am 21. Juni 2021 eröffneten Dokumentationszentrum »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« wird das Schicksal auch von mehr als 14 Millionen Deutschen thematisiert, die im Zuge des von Deutschland ausgegangenen Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Politik und ihrer Folgen die früheren preußischen Ostprovinzen und ihre Siedlungsgebiete in Mittel-, Südost- und Osteuropa verlassen mussten.
(Vgl. https://www.flucht-vertreibung-versoehnung.de)

Aus diesem Anlass werden nachstehend Auszüge aus unserem 2019 erschienenen Bildband »Leben unter dem Hakenkreuz« wiedergegeben, einer lebensnahen Dokumentation, einer »Ausstellung in Buchform«, in welcher Mitglieder der Familien Naß aus Pommern und Benkowitz aus Westpreußen authentisch aus ihrem Leben erzählen.

Die Vertriebenen/Geflüchteten/Übersiedelten aus Pommern und Westpreußen erfahren erst im Laufe des ersten Friedensjahres 1946 durch ihre Briefe von einander, ihren neuen Standorten im Deutschland der Nachkriegszeit, wohin es sie verschlagen hat, wie es ihnen geht bzw. wie es ihnen ergangen ist.

Ihre Briefe ergeben ein Bild, wie die Familienmitglieder das Nachkriegschaos erfahren haben, wo jeder versucht, sich zurechtzufinden, Fuß zu fassen oder zumindest den Boden unter den Füßen zu spüren, geprägt von Unsicherheit über den Verbleib der Männer, Sorge um die Kinder und die alten Menschen, Hoffnung auf ein Zurück in die alte Heimat, Hoffnung auf Besserung.

Meta Jutrowski zuvor aus Neustadt, Westpreußen, geflohen zu ihrer Schwester Emmi Gumz nach Belgard, Pommern, von wo aus sie weiter gen Westen (Holstein) vertrieben werden, schreibt an ihre Schwester Hedwig Benkowitz und deren Mann Hermann Benkowitz in Frankfurt.

Meta 31.5.1946:
Muß einmal anfragen, ob Ihr meine Post nicht erhalten habt, warte schon mit Schmerzen, das man von einen ein Lebenszeichen bekommt, aber immer vergebens. Haben so allerhand durchgemacht. Liebe Schwester, weißt du was von Lieschen, wo die ist. Wo ist Hermann, ist der schon zu Hause! Von Anton weiß ich auch noch nichts. Wir sind ja noch so leidlich auf dem Posten auch keine Kartoffeln. Mama und Emmi sind auch hier. Ich möchte so gerne weg von hier, kann man nach Euch kommen. Möchte gerne einen Brief schreiben, aber kein Papier. […]

»Haben so allerhand durchgemacht … Ich möchte so gerne weg von hier«

Foto: Meta und ihr Sohn Jürgen 1941 in Neustadt Westpreußen

Emmi Gumz, Mehlbek/Itzehoe, Oktober 1946:
Euren Brief habe ich erhalten mit den 10 M, wofür ich Euch schön danke. Hätte schon eher geschrieben, aber wir haben Kartoffel gesammelt beim Bauern, muss man ja schon, sonst hat man im Winter nichts zu essen. Uns geht es so wie Euch, das Leben ist doch schwer für uns geworden, zumal man jetzt alleine steht, mit den Kindern. Unser Papa läßt nichts von sich hören, haben bald keine Hoffnung mehr, was soll das blos werden. […] Es gibt … zu wenig Fett und der Zucker reicht auch nicht. Aber mal muß man sich doch ärgern.

Vielleicht sind wir nächsten Frühjahr schon zu Hause [in Belgard/Pommern] , hier möchte ich nicht bleiben. Mama will auch nicht hier sterben, sie spricht so viel von zu Hause. […] Martha [Erichs Frau] schreibt auch so … traurig?, ihr haben die Polen auch alles weggenommen, nichts auf dem Leib, und was haben sie aushalten müssen unterwegs. Sie schreibt von Erich [in Gefangenschaft in Frankreich], dass er nur 112 Pfund wiegt, stellt euch mal das vor, er war immer so derbe. Hoffentlich wird er auch bald mal entlassen. […].  Ich war mit allem gut versorgt, hätte bestimmt noch paar Jahre ausgehalten [ohne Mann] und jetzt fehlt es an allem und der Winter steht bald vor der Tür. Gehe mit Werner täglich in Holzpantoffel, Schuhe gibt es nicht. Der Bürgermeister gibt keine Bezugsscheine raus. […] Hier ist immer schlechtes Wetter, alle Tage Regen und dazu kalt, soviel hat es nicht bei uns geregnet. Holstein ist nicht schön. […]

Ihr [Tochter Edith] Essbesteck hat sie auch nicht mitbekommen, alles hat der Pole in Hintern gekriegt, wollt so manches nehmen, aber mit Gewalt stießen sie mich raus. Pappas Bild nahmen sie übers Knie und hauten es entzwei, sagten deutsches Schwein, hätten es so gern mitgenommen. Ja ihr Lieben, was die uns zugesetzt haben.

»… mit Gewalt stießen sie mich raus … was die uns zugesetzt haben.«

Foto: Emmi mit Sohn Werner und Tochter Edith 1940 in Belgard, Pommern. Ihr Mann Werner wird seit 1943 im Russland-Feldzug vermisst.

Meta Jutrowski, Mehlbek/Itzehoe, 4.11.1946:
Wann werden einmal andere Zeiten für uns kommen, denn diese Zeiten sind schrecklich, und der Winter rückt immer näher und in der kalten Bude hockt man hier ohne Ofen drin nichts und keiner hat Mitleid mit uns Flüchtlingen wie die Bauern noch alles besitzen. Meine Kartoffel habe ich auch schon gekauft genau 4 Ztr., wie in der Stadt bekommt man zugeteilt wir sind alle so unglücklich und unzufrieden, wie soll das bloß enden, hier ist auch immer schlechtes Wetter, so Menschen so das Wetter. Wir sollten ja erst nach Wilster, aber nun nimmt Wilster keine mehr auf, nun sollen wir ander wegen hin. mit Mama [Emma Naß] ist es am schlimmsten. Sie muss sich auf die alten Tage [64 Jahre alt] so umher stoßen lassen und dann auch im kalten. Wir können uns gegenseitig nicht helfen. […]

Habe ich eine Bitte. Ihr habt doch nicht verloren, vielleicht hat Hermann etwas altes Zeug, das ich Jürgen [Metas Sohn] etwas nähen lassen kann, ein Jacket es geht zum Winter und man hat nicht was warmes. Ich habe auch keine Socken zum überziehen und keine Latschen auf die Füße. Ich bin schon ganz verzagt. Kein Geld, nun hat man mich mit Jürgen auch die Fürsorgeunterstützung entzogen. Die mit einem Kind sollen nichts haben, was soll ich nun machen, man muß jetzt alles gehen lassen, wie es will. Ich denke Gott wird uns schon noch mal befreien aus dieser Not. Ich habe nun zwei Fluchten durch, erst von Neustadt, da musste ich auch alles stehen lassen und in Belgard ist der Rest geblieben. Also warme Sachen besitzen wir garnicht und uns hat es an nichts gefehlt, denn Anton hat uns mit allen versehen. Wenn ich denn man erst wüsste, dann wäre es mir schon etwas leichter und von meinen Schwiegereltern weiß ich auch nichts.

 »Ich habe nun zwei Fluchten durch …«

Bruder Erich aus Belgard (Pommern) ist in französischer Gefangenschaft im Camp du Ruchard Amboise, Frankreich, und er schreibt am 15.12.1946:
Leider kann ich nicht so viel schreiben, trotzdem ich so viel auf dem Herzen habe. 2 B(riefe) und 2 Karten kann ich den Monat schreiben aber es kostet mir meine 300 gr. Brot von einem Kameraden.  Aber ich opfere sie … Man hört weiter nichts als Not und Elend … Diese Not wird wohl noch lange anhalten, denn Deutschland ist die Länder der landwirtschaftlichen Produktion los geworden. Denke dran was polnisch ist. Die Hoffnung aber wollen wir nicht verlieren u. und nehmen sie mit ins neue Jahr, das uns das ersehnte Wiedersehen bringen möge.  …

»2 B(riefe) und 2 Karten kann ich in den Monat schreiben …«

Foto: Martha Naß mit Sohn Ernst und Tochter Ilse, Belgard Pommern, 1941

Ida Mewe in Berlin im Wedding , (meine Großmutter), Liesenstr. 10, 23.12.1946:
… denn ich habe viel durchgemacht, es ist ein Wunder, dass ich noch lebe. Denn in der Veteranenstraße habe ich alles verloren, war hier in unserer Mari ihre Tochter Herta ihre Wohnung, waren auch schöne Sachen ist aber alles abgeholt weil der Mann P.g.(Parteigenosse?) war, nun habe ich dadurch? viel Arbeit und Sorgen wieder etwas angekauft 1 Schrank und ein Bettgestell von Stadt Berlin geborgt bekommen. Betten, Wäsche Kleider Anzüge Schuhzeug alles ist in Kolberg [Pommern] geblieben, durch Nähen habe ich etwas Wäsche wieder bekommen auch sind wir im Hunger Sektor Französisch, kein Gemüse, keine Feuerung, bei Christa [Schulz, evakuiert von Stettin nach Singen, dann Konstanz] das gleiche auch Französisch. … noch weniger wie 200 [Gramm] Brot pro Tag. Bodo [eins von Christas vier Kindern] hatte etwas an der Lunge vollständig unterernährt. …

 »in der Veteranenstraße habe ich alles verloren«

»… auch sind wir im Hunger Sektor Französisch, kein Gemüse, keine Feuerung, bei Christa das gleiche … «

www.dss-zfd.org/evakuiert-7-august-1943/

Foto: Ida mit Familie Benkowitz (Hermann, Hedwig, Ursula) 1937 in Berlin

Herman Benkowitz’ Schwester Gertrud Gniech aus Löbsch Westpreußen ist nach der Flucht im Bunker in Wuppertal gestorben und hinterlässt sieben Kinder, die Hermanns Schwester Meta – auch im Bunker – übernimmt. Hermanns Tochter Ursula (22 Jahre alt) holt zwei Kinder nach Frankfurt und schreibt an ihre Tante Emmi in Holstein:
So war Meta seit Juni mit den Kindern allein (7 Stück) in Wuppertal im Bunker. Ich kann Dir sagen, ein Elend. Unbeschreiblich. Na ja, drei hatte ich da ganz gut untergebracht, 2 [Else 12 Jahre und Werner 5 Jahre] hatte ich mitgenommen und wie Tante Meta jetzt schreibt, sind auch die anderen da in der Gegend untergekommen. Aber es ist doch alles nichts, so auseinander gerissen, aber Mutti kann doch auch nicht 7 Kinder versorgen.

 »…in Wuppertal im Bunker. Ich kann Dir sagen, ein Elend. Unbeschreiblich

Fotos: Hermann Benkowitz und seine Schwester Meta in Krockow, Gertruds Kinder Else und Werner, Löbsch, Westpreußen, 1941

»Nur« ein Auszug aus dem Bildband Leben unter dem Hakenkreuz,  lesen Sie noch viel mehr über Ereignisse, Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg, die auch Ihre Vorfahren erlebt haben könnten.

Dagmar Stange
Juni 2021