Der Abend des 17. Juni 1953 in Berlin

HERTIE Das Kaufhaus des Weddings Chausseestraße 69-71

Das diesjährige Gedenken, der 70. Jahrestag des Volksaufstands in der DDR, wirft auch mich zurück auf dieses Ereignis am 17. Juni 1953 und die damalige, meine erlebte Zeitgeschichte als Kind.

Konstanz ist nach dem Krieg die neue Heimat für uns, Mutter Christa, meinen Bruder [der Älteste von uns 4 Kindern], zweitälteste meine große Schwester, für mich als Dritte und meine kleine Schwester. Noch zehnjährig nahm mich meine Oma mit nach Berlin, damit meine Mutter mit ihrer Berufstätigkeit und den vier Kindern etwas entlastet ist und »das Kind [ich] etwas auf die Rippen bekommt.« Wir waren immer hungrig. So kam Oma zu Besuch aus Berlin und fragte mich, ob ich mit nach Berlin komme. Neugierig, wie ich war, ging ich mit.

Oma Ida mit ihren vier Enkeln. In Konstanz auf der Dachterrasse des Hohen Hauses in der Zollernstraße [Dagmar vorne links]

Passfoto für die Reise quer durch die DDR nach Berlin

Die Reise ging mit dem Bus über die DDR-Grenze, Übergang Hof/Töpen-Juchhöh in die DDR. Am Bahnhof Zoo in Berlin endete die Reise.

So verbrachte ich einen prägenden Teil meiner Kindheit in der Großstadt Berlin bei meiner Oma Ida, zum dritten Mal verheiratet mit Walter Gäbel in Berlin-Wedding, Liesenstraße 10.

Überall begegnete ich vom Krieg zerstörten Häusern.
Unsere Spielflächen waren die Liesenstraße, teilweise in den Trümmern zerstörter Häuser und in der Ackerstraße entwickelte ich mein Turnkönnen auf einem quadratischen Stahlgerüst und dem dafür angelegten Spielplatz. Nicht weitab davon gab es einen Bäcker, bei dem ich Knüppel und Schrippen einkaufte [in Konstanz hießen sie einfach Brötchen].

Der nahe gelegene Humboldthain war Erholungsgebiete für die ganze Familie. Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit zerstörten den ursprünglichen Volkspark weitestgehend, sodass dieser zwischen 1948 und 1951 komplett neu angelegt wurde, wobei auch der Trümmerschutt der abgerissenen Gebäude verwendet wurden. Der neuangelegte Rosengarten war auch schon für mich in 1952 ein beeindruckendes und schönes Ausflugsziel.

Ich erlebte meine kleine Welt im Wedding recht unbekümmert, nur wenn die Jungs mich hetzten, lief ich atemlos weg. Sie waren ja stärker als ich. Außerdem hatte ich schon »etwas auf den Rippen« [also an Gewicht zugenommen s. Foto]. Jedoch Oma tadelte mich ob meiner Feigheit, so einfach weglaufen, galt bei ihr nicht.
Oma hatte noch viele ihrer Freunde im Russischen Sektor, vornehmlich in der Veteranenstraße, wo sie mit Mann und Tochter Christa vor dem Krieg lebte. Ihre Besuche im Ostberlin waren immer willkommen, und ihre  Mitbringsel wie Nylonstrümpfe, Kaffee und Schokolade – obwohl auch sie das Geld zusammenkratzen musste – waren hoch geschätzt.
Der Besuch glich einem Familienfest. Auch ihr Enkel Bernd, Sohn ihres zweiten Sohns, mein Halbonkel Heinz mit Frau waren zugegen, links im Bild.
Im Hintergrund stehend Opa Walter Gäbel, vor ihm Dagmar mit der Brennschere gelocktem Haar und Oma Ida sitzend neben mir auch mit gelocktem Haar und ein Gläschen in der Hand.

Oma nutzte wie viele im Westen Wohnende die günstigen Lebensmitteleinkäufe mit Ostgeld in den HO-Läden der DDR im Ostsektor, Grenzübergang Chausseestraße.
Ich unterstützte sie dabei tatkräftig, waren mir die Einkäufe meiner Mutter als Grenzgängerin in der Schweiz Konstanz/Kreuzlingen doch sehr vertraut.

Der Abend des 17. Juni 1953
Es lag eine unruhige, nicht sichtbare spannungsvolle Stimmung in der Luft. Draußen war es noch sommerhell und ich lag im Bett, welches im Wohnzimmer stand. Keiner war in der Wohnung. Diese lag im 4. Stock, Seitenflügel. Die Menschen vom Haus waren auf der Straße, der Liesenstraße, auch Oma. Ich spürte die Unruhe und die ungewohnten Geräusche, Lärm, Stimmen von Hinterhof hörte ich durch das offene Fenster. Zum ersten Mal spürte ich so etwas wie Bedrohung, nicht übermäßig, aber ungewohnt und unbekannt für mich. Ich konnte nicht deuten, was los war und ich konnte mit keinem reden. Ich fühlte mich etwas hilflos.
Das war, woran ich mich noch heute erinnere. Diese Erinnerung trug sich durch mein langes Leben.

Dieses Mal recherchierte ich und wollte wissen, was bei uns in der Liesenstraße, Chausseestraße am 17. Juni 1953 auf den Straßen passierte.

Die Ereignisse Chaussee- /Boyenstraße
Damals hieß unser Bezirk noch Wedding Berlin 65. Unser Einkaufsumfeld – abgesehen von den günstigen Alltagslebensmitteln in den HO-Läden im russischen Sektor – befand sich in der Chausseestraße 69-71 auf unserem [französischen Sektor] HERTIE Das Kaufhaus des Weddings, es war unser Kaufhaus. Zum Kindertag wurden kostenlos Fotos von den Kindern gemacht, verbunden mit einem Schuhkauf [s. Foto »Daggi« mit rotblondem Haar und vielen Sommersprossen über die Nase].
Der Grenzposten der Chausseestraße war unweit von der Liesenstraße linksabgehend. Die Chausseestraße kreuzte die Liesenstraße im Westen und gegenüber auf der Ostseite befand sich die Boyenstraße.

©bpk-Bildagentur / Benno Wundshammer Demonstranten zerstören in der Boyenstraße, Ecke Chausseestraße ein Schild »Ende des Demokratischen Sektors von Groß-Berlin«.
Das ‚Sektorenschild‘ ist in der obigen Fotostrecke auf dem letzten Bild rechts »Berlin N. Chausseestraße« noch unversehrt zu sehen.

©bpk-Bildagentur Zwei Tage nach dem 17. Juni stehen sowjetische T-34 Panzer in der Chausseestraße nahe der Sektorengrenze in Stellung.
Chaussee- Ecke Liesenstraße, Schild VOUS QUITTEZ LE SECTEUR FRANÇAIS [Sie verlassen den französischen Sektor].

Am 17. Juni entlud sich die Wut der Bürger also auch hier in der Boyenstraße auf DDR-Seite, unweit von der Liesentraße 10, wo ich in der Wohnung schon schlafen sollte. Die Unruhe jedoch übertrug sich auch auf mich als 10 ½ jähriges Kind.

Oma Ida Gäbel 1968 in der Liesenstraße, rechts die Mauer auf den Dorotheenfriedhöfen

Liesenstraße/Ecke Chausseestraße ohne Mauer nach der Vereinigung ca. 2012. Das Foto ist zufällig am gleichen Standort wie auf dem obigen Bild mit den Panzern an der Kreuzung Liesenstraße aufgenommen. Straßenschild »Liesenstaße« direkt hinter dem »Sektorenschild« gerade noch lesbar.

Rückblickend mussten die Menschen, die sich gerade vom Zweiten Weltkrieg erholen wollten, sich wieder zurückversetzt in die Kriege fühlen und sie sahen die Bedrohung eines weiteren Krieges.
Oma Ida hatte ihren Mann, meine Mutter ihren Vater, mein Großvater, Musketier Erst Nass im 1. Weltkrieg am 17. Juni 1916, gefallen bei Ypern Wytschaete, Belgien, verloren.
Idas erster Sohn, Oberschütze Werner verlor im zweiten Weltkrieg 24-jährig sein Leben – gleich zu Anfang des 2. Weltkriegs beim Überfall auf Polen am 14. September 1939 in der Schlacht an der Bzura.

… und heute  – Krieg in Europa. Russland mit der Ukraine und keiner weiß,  kann vorhersagen, wohin uns das führt.

Dagmar Stange
Im Juli 2023

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