Vor 75 Jahren – Evakuiert 7. August 1943
Der Weg von Stettin/Pommern nach Konstanz am Bodensee

Christa Schulz geb. Nass, meine Mutter und Nichte von Hermann Benkowitz (der preußische Leibhusar), wurde mit mir und meinen beiden Geschwistern vor 75 Jahren – am 7. August 1943 – im Rahmen der vorsorglichen Umquartierung „auf Anordnung des Reichsverteidigungskommissars“ mit einer Reisegenehmigung von Stettin zur ihrem „Verwandten Mann Schulz Raimund, Wohnung Singen am Hohentwiel Luisenstr. 8“ evakuiert.

Der Luftkrieg der Royal Air Force gegen deutsche Städte, der am 11. Mai 1940 begann, traf auch Stettin.

Der erste Bombenangriff auf Stettin war am 29. März 1942 und wurde gemäß der Area Bombing Directive durchgeführt. Es war – wie schon seit März 1942 auf Lübeck, das Ruhrgebiet, Köln und im Juli und August 1943 auf Hamburg – die Umsetzung dieser Strategie, die dem Chef des RAF Bomber Command, Luftmarschall Arthur Harris, zufiel. „Bomber Harris“ wurde von Premierminister Winston Churchill, dem Vorsitzenden des Kriegskabinetts beauftragt, das morale bombing zu führen. Dieses sollte durch gezielte Angriffe die Moral der Zivilbevölkerung, insbesondere der Industriearbeiterschaft, brechen und ihren Widerstandswillen schwächen.

1940 führte der Beruf des Ingenieurs Raimund Schulz die Familie von ihrem geliebten Berlin nach 15 Jahren nach Stettin, wo ich 1942 als drittes Kind in der Landesfrauenklinik in der Roonstraße 9-11 geboren wurde. Nicht weit davon ist der Quistorpark mit dem Laubengang. „Wir haben eine wunderschöne Wohnung {in der Kronenstraße 38} bekommen mit allem Komfort am Grabower Park“ schrieb Christa Schulz an ihre Verwandten, die Familie Hermann Benkowitz in Frankfurt.

Auf dem Foto vor dem Haus der späteren Wohnung in der Gutenbergstr. 3 hält mich meine Schwester Anita fest im Arm. Es waren drei kurze Jahre des familiären Zusammenseins in diesen Kriegszeiten.

Im Stadtplan von Stettin sind das Landeskrankenhaus (grün) und die Wohnungen (weiß) gekennzeichnet.

In der Nacht vom 20./21.04.1943 flog der RAF Bomber Command mit 339 Flugzeugen einen Luftangriff auf Stettin. Meine Mutter berichtete, wie sie unter dem Sirenengeheul mich, 6 Monate alt, aus dem Bett riss, und mit meinen Geschwistern Bodo (6 Jahre) und Anita (3 Jahre) aus der Wohnung in der Gutenbergstr. 3 in den Luftschutzkeller floh. Ich schrie die ganze Nacht, erzählte sie weiter.

Schwere Schäden im Stadtzentrum von Stettin, Bombeneinschläge in Wohnvierteln und Krankenhäusern, verursachten Verluste unter der Bevölkerung und zum Teil erhebliche Gebäudeschäden.

Wir wurden also im August 1943 nach Singen am Hohentwiel evakuiert. Stettin und seine Bevölkerung mussten jedoch noch einige Luftangriffe erleiden bis zum letzten Großangriff am 29./30.08.1944.

In der Nacht vom 29.08.1944 auf den 30.08.1944 fliegen die Groups 1, 3, 6 (RCAF) und 8 mit 402 Bombern einen Luftangriff gegen Stettin.

Im Juni 1944 wurde das vierte Geschwisterchen Christa im Singener Krankenhaus geboren und in der Krankenhaus-Kapelle, Luisenstraße, getauft.

Im August 1944 kam meine Mutter mit ihren vier Kindern ins Löchner-Haus auf der Reichenau zur Mutter-und-Kind-Erholung. Es dauerte, bis die Familie am 6. Oktober 1944 von Stettin die „Betreuungskarte für Fliegerschädigte – Totalschaden“ erhielt mit dem Eintrag „Fliegerangriff: 30.8.44 – bisherige Wohnung Gutenbergstraße 3“ und einem handschriftlichen Vermerk  „1 Koffer 75 cm“. Ein kleiner Koffer von 75 cm, das war das Gepäck bei der Evakuierung einer Mutter mit drei Kindern.

Im Herbst 1944 wurde meine Mutter mit ihren vier Kindern im „Mutter- und Kindheim St. Johann“ in Konstanz untergebracht. Angekommen in Konstanz war sie sprachlos. Die Innenstadt war in der herbstlichen Dunkelheit hell erleuchtet, keine Verdunkelung in der Nacht, wie sie es von Stettin gewohnt war. Sie erfuhr, dass die Verdunkelungspflicht wegen der Gefahr versehentlicher Angriffe auf Schweizer Städte, wie es am 1. April 1944 mit der Bombardierung von Schaffhausen durch die Alliierten irrtümlich geschah, wegen der Nähe zur Schweiz aufgehoben wurde. Raimund, mein Vater, wurde von der Wehrmacht nach Pforzheim eingezogen. So verbrachten wir das erste Weihnachten in Konstanz ohne ihn im Kerzenlicht des erleuchteten Weihnachtsbaums.

2012 war ich unterwegs zu den Wurzeln nach Stettin – meiner Geburtsstadt, dem heutigen polnischen Szczecin/Woiwodschaft‎: Westpommern.

Das Gebiet um die Gutenbergstraße ist völlig neu bebaut, die Straße gibt es nicht mehr. Man kann nur erahnen, wo das Haus, die Straße gewesen sein könnten.

Viele Städte haben durch den Krieg ihr Gesicht verändert und Neues entstehen lassen – aber auch Altes wieder aufgebaut  – als Vermächtnis an das neue Europa, zur stetigen Mahnung und Erinnerung.

Text und Fotos Dagmar Stange/Familiennachlass