Vor 60 Jahren – Der ganze Bodensee: überzogen von einer geschlossenen Eisdecke!

Der Bodensee, auf seiner Breite von 14 km, seiner Länge von etwa 63 Kilometern und Fläche von 536 qkm ist zugefroren!

Für einen zugefrorenen Bodensee braucht es einen kalten Sommer.
Viele Faktoren müssen zusammenkommen, damit der Bodensee zufriert und eine so genannte Seegfrörne eintritt. Der Sommer davor muss kälter sein als normal, Ostwinde müssen für einen kalten Herbst sorgen. Und schließlich müssen im Winter arktische Temperaturen und Windstille herrschen. Solche Voraussetzungen sorgen schließlich dafür, dass das Eis auf dem See so dick wird, dass es Menschen trägt. Kommt das große Eis, ist das ein Jahrhundertereignis; die letzten Seegfrörnen (in der Schweiz Seegfrörni) vor 1963 gab es 1880 und 1830.
Bereits zum Jahreswechsel sank die Quecksilbersäule auf fast minus 20 Grad. Mitte Januar konnte der Bodensee im Bereich Untersee bereits überquert werden. Die Bodenseeschifffahrt musste sukzessive ihre Linien einstellen, Anfang Februar ist auch die Insel Mainau vom Eis umschlossen, und am 5. Februar schließlich ist es soweit. Der ganze Bodensee: überzogen von einer geschlossenen Eisdecke.

Überquerung des zugefrorenen Bodensee
Zeitzeuge Hermann Urnauer
Es ist der frühe Morgen des 6. Februar 1963, als Hermann Urnauer aus dem badischen Winzerdorf Hagnau am Bodensee das Haus verlässt. Plötzlich erkennt er im dichten Nebel: »Da waren Männer auf dem Eis und haben mit Seilen hantiert – und dann wusste ich: Jetzt ist es soweit«, erzählt der 82- Jährige. Urnauer eilt nach Hause und zieht seine Schlittschuhe an. Schon nach kurzer Zeit hat er die Gruppe eingeholt. »Es war so um die minus 20 Grad kalt, und das Eis hat ziemlich heftig geknackt, aber umkehren wollten wir trotzdem nicht.« Eines ist den Männern in diesem Moment klar: Was sie in diesem Augenblick erleben, ist einzigartig auf dem Weg übers Eis. Ihr Ziel: das sieben Kilometer entfernte Schweizer Ufer. Während Hermann Urnauer auf seinen Schlittschuhen unterwegs ist, führen die Männer vor ihm einen Schlitten mit Kompass, Fernglas und Leiter mit sich. Denn so aufregend das Unternehmen ist, so lebensgefährlich ist es auch: Fällt jemand ins Eis, wird er nicht wieder an derselben Stelle nach oben kommen. An jenem Tag sei er sich dieser Gefahr nicht so bewusst gewesen, sagt Urnauer. Erst Jahre später sei ihm klar geworden, dass er ziemlich leichtsinnig gewesen sei; immerhin seien zuhause seine Frau und zwei kleine Kinder gewesen.

Altnau am Schweizer Ufer ist das Ziel, sieben Kilometer von Hagnau. »Nach zwei Stunden haben wir dunkle Umrisse ausgemacht und wussten, dass das nur das schweizerische Ufer sein konnte.« Doch die dunklen Schatten am Horizont sind nicht etwa die Häuser von Altnau, sondern Pappeln am Ufer von Güttingen. Ein Schäferhund bellt die Fremden an, die Tür des Wirtshauses Schiff öffnet sich. »Ja, wo kommt ihr denn her?«, fragt der Wirt die dick vermummten Gestalten. Gulasch und Kartoffelbrei gibt es für die hungrigen Abenteurer. Um zehn vor zwölf hatte die Gruppe die Schweizer Seite erreicht. In Güttingen, im Gasthaus »Zum Schiff«, wärmt man sich auf, die Gastgeber können kaum glauben, dass es schon am zweiten Tag nach dem Schließen der Eisdecke möglich sein soll, den See zu überqueren. Doch die Gruppe ist da, und das ist der Beweis. Der See ist zu, die einzige vollständige Seegfrörne des 20. Jahrhunderts offiziell.

Die erste Gruppe nach Ankunft in Güttingen, mit Klaus Winder, Berthold Arnold, Konrad Maier und Manfred Maier, die unterwegs den Schlittschuhfahrer Hermann Urnauer aufgabelte, zudem Josef Ritter, der sich im Nebel zunächst verlaufen hatte.| Bild: Blick/Archiv Arnold (Internet Screenshot)

Als einer der ersten Seeüberquerer kam auch August Knoblauch mutterseelenallein von Hagnau nach Güttingen (beim Zeitzeugengespräch-Gespräch im Seemuseum Kreuzlingen 23.02.2023)

Die Eroberung des zugefrorenen Bodensees
Die Expedition an jenem Morgen sollte einen wahren Sturm auslösen: Tausende Menschen machten sich noch am selben Tag und in den kommenden Wochen auf den Weg über das Eis – mit Schlittschuhen, Skiern, Fahrrädern, Schlitten, zu Fuß und sogar mit Auto, Mopeds und Kinderwagen. Tausende spazierten von Deutschland in die Schweiz und zurück. Der Grenzschutz war machtlos gegen die Massen, die jegliche Vorschrift außer Acht ließen. In Lindau landeten Flugzeuge auf dem Eis, und sie führten Schauflüge durch.

Zu dieser Zeit und an diesem Ereignis war ich noch Konstanz lebend. Als Schülerinnen des Ellenrieder-Gymnasiums schränkte diese Situation auch unseren Schulalltag ein. Die Schüler und Schülerinnen von der Überlinger-Seeseite, die unsere Gymnasien besuchen mussten (es gab auf der Überlinger Seite noch kein (Mädchen-)Gymnasium), konnten ebenso wie die Berufstätigen den Überlinger See nicht mehr mit der Fähre überqueren. Sie mussten, um nach Konstanz zu kommen, den Bus und die Bahn nehmen. So kamen während dieser Zeit meine Mitschülerinnen regelmäßig wegen des fehlenden Schiffsverkehrs zu spät zum Unterricht.
Überall, auf und über den ganzen See drangen die Bevölkerung und deren Begeisterung über die gefrorenen Eisfläche.

Eisprozession von Münsterlingen/Schweiz nach Hagnau/Deutschland
Höhepunkt der Seegfrörne war die traditionelle Eisprozession am 12. Februar. Seit 1573 ist es Brauch, dass bei einer Seegfrörne eine Eisprozession stattfindet, bei der die Büste des Heiligen Johannes Evangelista zwischen dem (ehemaligen) Benediktinerinnenkloster Münsterlingen in der Schweiz und der katholischen Pfarrei Hagnau in Deutschland über den See getragen wird. Nach 1573 folgten Prozessionen in den Jahren 1695 und 1830. Seit dem 12. Februar 1963 steht nun der Heilige in der Pfarrkirche des ehemaligen Benediktinerinnenklosters in Münsterlingen und wartet auf das nächste große Eis. Was bei dem gegenwärtigen Klimawandel und Temperaturanstieg nicht so schnell mehr geben wird.
Rund einen Monat dauerte das Spektakel, die Seegfrörne 1963; heute vor 60 Jahren am 10. März ist der Spuk vorbei.

Zur Erinnerung

Schiffsanlegestelle Altnau
Im Hintergrund Bundesstraßenschild und Hagnau am deutschen Ufer

An dieses Jahrhundertereignis von 1963 und die Menschen, die als erste nach der letzten Überquerung von 1880 den Bodensee überquert haben, erinnern Skulpturen in Personengröße, die an den jeweiligen Standorten an den Ufern von Hagnau auf deutscher und Altnau auf Schweizer Seite installiert wurden. An beiden Uferseiten wurden die jeweiligen Stege in der Zwischenzeit wesentlich verlängert, damit auch bei Niedrigwasser die Bodensee-Schiffe anlegen können. In Altnau weist ein Bundesstraßenschild an der Anlegestelle, am Ende des Stegs, über den See mit sechs Kilometer den direkten Weg nach Hagnau.
Die Skulpturen erlauben uns, dieses Natur- und Jahrhundertereignis an den konkreten Orten am Bodensee nachzuvollziehen.

Altnau auf der Schweizer Seite des Bodensees war das Ziel der Gruppe um Hermann Urnauer. Da jedoch Nebel und Eis auf der riesigen Eisfläche eine klare Orientierung erschwerten, driftete die Gruppe auf ihrem sieben Kilometer langen Weg ab, und sie landete in Güttingen im Gasthaus Schiff am Seeufer.
Die Fotoreihen aus den existierenden Stiftungsbeständen (2013 und 2018) sollen die Distanzen der Ortschaften Altnau, Hagnau und Güttingen und die Dimensionen des Obersees visualisieren.

Bild 1: Im Hintergrund österreichische Berge, Schiffanleger Güttingen im Bau (roter Bagger)
Bild 2: Altnauer Ufer mit Blick auf Hagnau am gegenüberliegenden deutschen Ufer
Bild 3: Altnauer Ufer Blickrichtung Güttingen
Bild 4: Güttingen Blickrichtung Konstanzer Bucht und Gasthaus Schiff Güttingen
Bild 5: Vom Schweizer Ufer Güttingen Blickrichtung Hagnau
Bild 5+6: Badi Güttingen mit der Skulptur im See (Jürgen Knubben)

Nach Wochen anhaltender Kälte brachte der März Tauwetter – ab dem 9. März 1963 ließ die Tragfähigkeit des Eises langsam nach, und die Seegfrörne ging zu Ende.

Noch nicht im Besitz einer Kamera, prägten sich jedoch die Bilder dieses Naturwunders – eine weite, nicht endende sibirische Landschaft ohne Horizont, ohne Haltpunkte … – wie Fotografien in mein Gedächtnis ein.

Die verschiedenen Fotografien aus vergangenen Jahren sollen helfen, die Großartigkeit, die unterschiedlichen Dimensionen des Bodensees wiederzugeben. Der See fasziniert zu jeder Jahreszeit in seinen vielzähligen Facetten. Stellt euch die Fotos in den verschiedenen, changierenden Weiß einer gefrorenen Seelandschaft vor!

Bodensee-Impressionen

Bild 1: Kreuzlingen Horizont Meersburg bis Bregenzer Bucht
Bild 2: Bregenzer Bucht Hintergrund Bregenzer Berge
Bild 3 Konstanzer Trichter bei Sturm (Standort Konstanz Seestraße und Schweizer Ufer)
Bild 4: Deutsche Seite Konstanzer Trichter Hagnau Friedrichshafen Bregenzer Bucht
Bild5: Kreuzlingen Blick Richtung Konstanz Seestraße
Bild 6: Meersburg Ankunft Bodenseeschiff

Dagmar Stange
März 2023

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