Am 13. August 1961 wurde die Berliner Mauer errichtet

Ein Stück Berliner Mauer – Hinterlandmauer – auf dem Alten Domfriedhof, Berlin-Wedding Liesenstr. 8; 2012

Eine kleine Episode in den 1950er Jahren
Berlin-Wedding – Sektorenübergang Liesenstraße/Chausseestraße

Einen Teil meiner Kindheit verbrachte ich in den 1950er-Jahren bei meiner Großmutter Ida Gäbel, die ihre Tochter, meine Mutter, in Konstanz mit ihren vier Kindern dadurch entlasten wollte. Ida wohnte in der Liesenstraße 10 in Berlin-Wedding.

Aus meinem kindlichen Blickwinkel damals trennten keine Zäune oder Mauern die West- und Ostsektoren in der Liesenstraße. Unweit von der Liesenstr. 10 am Sektorenübergang an der Chausseestraße, dem »Demokratischen Sektor von Groß-Berlin«, wurde von Fall zu Fall und »locker« kontrolliert. Waren wir hier auch nur fast tägliche Grenzgänger zum Einkaufen, zu Besuchen bei unserer Verwandtschaft und Freunden in Gesundbrunnen, in der Veteranenstraße.
Wie heute die in der Schweiz in den Grenzgebieten zu Deutschland Wohnenden nutzten auch Westberliner die günstigen Lebensmitteleinkäufe mit Ostgeld in den HO-Läden der DDR im Ostsektor.
Und Oma wurde erfinderisch. Wegen der begrenzten Mengen der Einkäufe nahm meine Großmutter einen Korbkinderwagen, legte statt eines Babys eine Puppe hinein, nahm eine Decke und deckte nach dem Einkauf nicht nur die Puppe zu, sondern auch ihre Einkäufe. Auf dem Rückweg schob ich mutig den Kinderwagen, sprach mit der Puppe wie zu einem Baby vorbei über den Kontrollpunkt Chausseestraße. Der Grenzposten winkte uns durch, wir bogen rechts ab in unsere Liesenstraße und verließen erfolgreich und ohne Kontrolle den Demokratischen Sektor von Groß-Berlin.

Abbildungen:
1 Ausschnitt Stadtplan Berlin 1974 »Übergang Chausseestraße«; 2 Chausseestraße mit Hertikaufhaus mit Kreuzung Liesenstraße (rechtsabbiegend) ca. 1961 (Postkarte); 3 Korbkinderwagen 1950er Jahre (Internet); 4 Ecke Chausseestraße Blickrichtung Südosten, Liesenstraße abbiegend Richtung Nordosten als »Berliner Mauerweg« 2012;

Die Liesenstraße
Die Liesenstraße 10, Idas Wohnung [Küche mit Altberliner Kachelofen, Wohnzimmer mit Kachelofen, Schlafzimmer; kein Bad, Toilette im Zwischenstock] im Seitenflügel, liegt direkt neben dem Dorotheenstädtischen Friedhof II, Liesenstr. 9. Der ca. 30 ha große und sehr gepflegte Friedhof liegt westlich des ehemaligen Grenz- und Mauerstreifens zwischen den Bezirken Wedding und Mitte und dort gegenüber der Alte Domfriedhof St. Hedwig, Haupteingang Liesenstraße 8. An ihrer südöstlichen Seite verlief die Berliner Mauer, die sich vom Sektorenübergang Chausseestraße/Liesenstraße bis zum nördlichen Ende an den Liesenbrücken zog.
An der rund 500 Meter langen Liesenstraße befindet sich so gut wie keine Wohnbebauung. Geprägt ist sie stattdessen durch die sie kreuzenden, denkmalgeschützten Liesenbrücken und vier der bekanntesten Berliner Friedhöfe. Auf den Grundstücken südöstlich der Straße sind außerdem Reste der Grenzanlagen an der Berliner Mauer erhalten geblieben.

Die Fotostrecke wurde 2012 erstellt.
1 Chaussee- Ecke Liesenstraße; 2 Liesenbrücke denkmalgeschützt links Gartenstraße; 3 Blick vom Grün/Todesstreifen Alter Domfriedhof auf die Häuserreihe Liesenstraße, ganz rechts: das Haus mit Vorderhaus, Seitenflügel und Hinterhaus, in dem meine Großmutter wohnte, ist abgerissen. 4 Es befand sich dort, wo Grabsteine für die Friedhöfe angeboten werden.

Am 6. Juni 1961 schreibt Ida aus Berlin-Wedding, Liesentraße 10,
im Westen, an Tochter Christa [meiner Mutter] nach Konstanz:

… Erna Potratz arbeitet jetzt im Westen in einer Kneipe, Reine machen. Sie sagt, sie kommt besser zurecht als beim Nähen. Komme fast gar nicht dahin, die Ostler sind alle Feinde des Westens, die denken immer wir stehen uns besser wie sie, weil die Schaufenster voller sind. Aber dass die Preise hier hoch sind, davon wollen sie nichts wissen ….

Am 12. August 1961 gab der Ministerrat der DDR bekannt: »Zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeit der revanchistischen und militaristischen Kräfte Westdeutschlands und West-Berlins wird eine solche Kontrolle an der Grenze der Deutschen Demokratischen Republik einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt, wie sie an den Grenzen jedes souveränen Staates üblich ist.«

Rund 2,7 Mio. Menschen hatten zwischen 1949 und 1961 die DDR und Ost-Berlin verlassen: ein Flüchtlingsstrom, der etwa zur Hälfte aus jungen Leuten unter 25 Jahren bestand und die SED-Führung vor immer größere Schwierigkeiten stellte. Täglich passierten rund eine halbe Million Menschen in beide Richtungen die Sektorengrenzen in Berlin und konnten so die Lebensbedingungen vergleichen. Allein 1960 gingen etwa 200.000 Menschen dauerhaft in den Westen. Die DDR stand kurz vor dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenbruch.
Auszug aus: Zur Geschichte der Berliner Mauer – Berlin.de vom 04.0.2013
http://www.berlin.de/mauer/geschichte/index.de.html

Durch den Mauerbau wurden von einem Tag auf den anderen Straßen, Plätze und Wohnquartiere geteilt und der Nahverkehr unterbrochen.

Die Leidenszeit nach dem Mauerbau am 13.8.1961
Viele Menschen, so auch meine Großmutter, haben den I. und II. Weltkrieg erleben müssen, dabei nahestehende Menschen in ihren jungen Jahren verloren – meine Großmutter 1917 ihren Mann [Vater meiner Mutter und mein Großvater], im II. Weltkrieg 1939 ihren Sohn, ihr zweites Kind [Bruder meiner Mutter, mein Onkel]. Noch 1953 erlebte sie mit mir in der Liesenstraße den Aufstand am 17. Juni 1953. Auch hier schon ging sie mit den Bewohnern nachts auf die Straße aus Angst vor einem weiteren Krieg. Ich fühlte mich zum ersten Mal bedroht in dieser Atmosphäre, allein in der Wohnung.
Sie alle erinnerten sich und hatten Angst.

»Rundherum ist jetzt eine hohe Mauer gezogen«

Am 27. August 1961 schreibt Ida an ihre Tochter [meine Mutter] Christa nach Konstanz in ihrer Berliner Sprache:

… Kohlen habe ich mich kommen lassen und Holz, und Konserven auch, denn wir wissen noch nicht wie unser Schicksal wird. Rundherum ist jetzt eine hohe Mauer gezogen, den Luftkorridor will er auch noch sperren, hoffentlich kommt er damit nicht durch. Die Nerven der Menschen sind aufs äußerstes gespannt. Wir vertrauen auf Gott dem Allmächtigen, dass er alles Schreckliche von uns abwendet. Wie ruhig könnt ihr da schlafen.

Ida in der Liesenstraße links Westsektor, rechts die hohe Mauer des Alten Domfriedhofs, Ostsektor der DDR, im Hintergrund die Liesenbrücke; 1968

»Da sind die Fenster alle zugmauert.
Die sich retten wollten aus 4 + 3 Stocksind alle schwer verletzt zum Teil tot.
«

Am 23. Oktober 1961 schreibt Ida nach Konstanz:

… Sonst geht es uns noch gut. wenn nur dieses Unheimliche und Schreckliche nicht wäre, werden alle so langsam mit den Nerven fertig. Jeden Tag was neues, es ist nicht mit anzusehen, was diese Menschen alles […] Frau Potratz und Erna sowie alle an der Grenze sind raus. wohin, das weiss keiner. die Sachen werden aufgeladen und kommen alles irgend durcheinander untergestellt, die Menschen kommen nach Magdeburg oder sonst wohin. Wie Verbrecher werden sie abgeführt in eine ungewisse Zukunft. Ich war vor 14 Tagen bei Frau Scholz, die wohnt visavis gerade gegenüber bei Frau Potratz Westsektor. Da sind die Fenster alle zugmauert. Die sich retten wollten aus 4 + 3 Stock sind alle schwer verletzt zum Teil tot. Ich habe aber doch noch Fr. Potratz zu sehen bekommen durch das Fenster. Sie weinte, wir haben uns zugewinkt. Wir sind auch so niedergeschlagen durch alles was diese Menschen machen. Immer werfen sie gar Bombentränengas rüber. dadurch ist die Luft so verpestet, dass wir immer Kopfschmerzen haben und immer müde sind. Schreiben tun sie noch alle, aber was sie schreiben möchten, dürfen sie nicht. Wie froh bin ich, dass ihr [Tochter Christa mit ihren vier Kindern in Konstanz] soweit wohnt und nichts davon erleben braucht. …

Am 25. Oktober 1961 standen sich amerikanische und sowjetische Panzer am »Ausländerübergang« Friedrichstraße [Checkpoint Charlie] gegenüber: DDR-Grenzposten hatten zuvor versucht, Repräsentanten der Westalliierten bei Einfahrt in den sowjetischen Sektor zu kontrollieren. Dieses Vorgehen verstieß in den Augen der Amerikaner gegen das alliierte Recht auf ungehinderte Bewegungsfreiheit in der ganzen Stadt. 16 Stunden standen sich so, nur wenige Meter voneinander entfernt, die beiden Atommächte direkt gegenüber. Für die Zeitgenossen ein Moment allerhöchster Kriegsgefahr. Einen Tag später erfolgte auf beiden Seiten der Rückzug. Durch eine diplomatische Initiative von US-Präsident Kennedy hatte der sowjetische Staats- und Parteichef Chruschtschow für diesmal den Vier-Mächte Status von ganz Berlin bestätigt. Auszug aus Berlin.de 04.07.2013

Ein Brief vom 08.10.1962 von ihrer Mutter in Berlin an Christa in Konstanz 8.10.1962
Nach einem Jahr noch immer die furchtbaren Erinnerungen

»…es war einfach furchtbar, das Schießen und Tränengas genauso wie im Krieg. Wir möchten hier alle weg an der Grenze…«

… Man muss sich mal von allem los sagen, damit man wieder Kraft schöpft zum arbeiten. Was würde ich auch gerne verreisen, aber das lb. Geld. Jetzt wird es wohl aus sein damit. Auch Bernd habe ich nicht verschicken lassen, denn es war ja hier sehr kritisch. Es ging Nächte lang und noch keine Ruhe. Es ging Nacht und Tag. Wir sind nachts noch runter gegangen zu Fr. Likus [eine Nachbarin im Haus], es war einfach furchtbar, das Schießen und Tränengas genauso wie im Krieg. Wir möchten hier alle weg an der Grenze. Der 13. August war der schlimmste Tag. Viele, die noch über die Mauer wollten flüchten, wurden erschossen meistens junge Menschen. Es muss in der Zone furchtbar sein. Willy schreibt nicht, denn sie dürfen nicht. Ich bin froh, dass Bernd [Idas Enkel vom Sohn Heinz, lebt bei der Großmutter Ida], hier ist, auch bin ich nicht so alleine, denn meine ganze Freundschaft ist doch im Osten. Bernds Mutter jammert auch dass sie Bernd nicht mal besuchen kann, man kann ihr mitfühlen. Aber noch schlimmer wäre es, wenn er heute in der Zone wäre, da würde er bald eingezogen zum Militär. Es soll 100 gr. Fett und 150 gr. Fleisch geben die Woche. Es haben welche geschrieben so rosig wird es da bestimmt nicht sein. …

…Gestern war Fr. Scholz hier sie wohnt in der Bernauerstr. Da war neulich Gertrud Potratz bei ihr und wollte aus ihrem Fenster ihrer lb. Mutter winken. Sie hat an dich recht lg. Grüße bestellt. Sie und ihr Bruder sind im Westen, Erna und Mutter sowie Gertruds Sohn sind im Osten, die Fenster wo Erna wohnt sind alle nach der Bernauerstraße zugemauert, auf die Ecke ist es sehr schlimm, da sind schon viele aus dem Fenster gestürzt und tot. Reinbolds schreiben auch immer. Ihr Sohn mit Frau und Kind sind noch rechtzeitig nach dem Westen gemacht, sie bekommt viele Pakete von ihr sonst hätte sie keinen der an ihr denkt …

In der Folgezeit wurden die Sperranlagen weiter aus- und umgebaut und das Kontrollsystem an der Grenze perfektioniert. Die innerstädtische Mauer, die Ost- von West-Berlin trennte, hatte eine Länge von 43,1 Kilometern. Der Teil der Sperranlagen, der die übrige DDR an der Grenze zu West-Berlin abriegelte, war 111,9 Kilometer lang. Weit über 100.000 Bürger der DDR versuchten zwischen 1961 und 1988 über die innerdeutsche Grenze oder über die Berliner Mauer zu fliehen. Weit mehr als 600 Menschen wurden von Grenzsoldaten der DDR erschossen oder starben bei Fluchtversuchen; allein an der Berliner Mauer gab es zwischen 1961 und 1989 mindestens 136 Tote. Auszug aus Berlin.de 04.07.2013

Alter Domfriedhof der St.-Hedwigs-Gemeinde – Fotoreihen 2012

1 Eingang zum Friedhof; 2 Das alte Kuppelkreuz im Friedhof der Domgemeinde; 3+4 Gedenktafel auf dem Grünstreifen mit Namen für die durch den Mauerbau zerstörten Gräber des I. und II Weltkrieges; [Auf dem Gelände ehemaliger Todesstreifen wurde ein Kolonnenweg mit Wachturm für die Fahrzeuge der Grenzpatrouille der DDR angelegt. https://de.wikipedia.org/wiki/Liesenstra%C3%9Fe ];  5 Engel und Kapelle am Zugang zum Friedhof

Reste der Berliner Mauer – Hinterlandmauer – auf dem St.-Hedwig-Friedhof

Die Berliner Mauerteile haben nicht an Sinngebung und Attraktivität verloren. Auf dem Alten Domfriedhof stehen sie still, ihrer Aufgabe enthoben, verloren umgeben von Natur und Grabsteinen – versteinerte Zeitgeschichte mit lebendigem zeitgenössischem Graffiti – Kunstwerke, eine neue Aufgabe.
…. Das dramatische und zugleich friedliche Ende ihrer ehemaligen Mission am 9. November 1989 ist ein würdiger Gedenktag und Mahnung zugleich unserer deutschen Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert.

Ein Mauerstück in der Chausseestraße

Dagmar Stange
August 2021

Wenn Sie mögen, leiten Sie die DSS. ZFD News gern an Ihre Familie, Freunde sowie Kollegen weiter. Haben Sie diese Ausgabe weitergeleitet bekommen, können Sie den Newsletter unten auf unserer Website kostenlos abonnieren.