1942 – Vor 80 Jahren, eine Evakuierung aus Stettin/Pommern – Teil 2  |
Ein Rückblick unter den Eindrücken des fortlaufenden russischen Krieges in der Ukraine und der Situation der evakuierten ukrainischen Bürger in Deutschland

Konstanz ­– Blick auf Bucht und Horn 1944

Kurze chronologische Zusammenfassung der Evakuierung der Familie aus Stettin, Teil 1 Newsletter im Juni 2022
1932 lernten meine Mutter Christa und Vater Raimund sich im Friedrichpalast, Berlin, kennen. 1934 heirateten sie in der Zionskirche Berlin-Mitte unweit der Wohnung ihrer Mutter in der Veteranenstraße. Im Dezember 1936 wurde Bodo und im Oktober 1939 Tochter Anita geboren, am 1. September begann der Zweite Weltkrieg, 1940 zog sie mit den beiden Kindern von Berlin zu ihrem Mann nach Stettin, der dort eine Tätigkeit als Elektro-Ingenieur aufnahm. 1942 wurde Tochter Dagmar dort in der Landes Frauenklinik in der Roonstraße als drittes Kind geboren. 1943 erfolgten schwere Luftangriffe britischer Bomber (Moral Bombing) auf die Stadt. 1942 zog Vater Raimund nach Konstanz, kurz darauf nach Singen und Mutter Christa war mit ihren vier Kindern in Stettin auf sich gestellt.  Die vorsorgliche Umquartierung für die Familie aus Stettin nach Singen wurde am 7. August 1943 veranlasst. Während Mutter Christa mit den 3 Kindern in Singen ankam, nahm Raimund eine Stelle bei Radio Anders in Konstanz an. Im Juni 1944 wurde Tochter Christa im Evangelischen Krankenhaus in Singen geboren.

1944 Der Weg nach Konstanz
Im August 1944 zog die 31-jährige Mutter – nun mit ihren vier Kindern Richtung Konstanz. Ihr Mann Raimund kam mit seinem Bataillon – ursprünglich geplant nach Südosten – nach Dänemark.
Eine kurze Zeit verbrachte Christa zuerst auf der Insel Reichenau/Bodensee im ehemaligen Strandhotel, später Lehrerbildungsanstalt Löchnerhaus, zur Erholung. Für sie war diese Zeit schön und erholsam. Sie hatte diesen Aufenthalt mit ihren vier Kindern (im Alter von zwei Monaten, knapp zwei, vier und acht Jahren) in den Sommermonaten am Wasser sehr genossen. Nach ihren Erzählungen fühlte sie sich dort wie im Urlaub.

1944 angekommen in Konstanz, St. Johann
Nach dem Erholungsaufenthalt  auf der Reichenau erhielt die Mutter mit den vier Kindern eine Unterkunft im Mutter-und Kindheim St. Johann

St. Johann Mutter- und Kindheim (ehemalige Stiftskirche Chorherrenstift St. Johann), Brückengasse 1

In Konstanz angekommen war Christa Schulz sprachlos. Die Innenstadt und das St. Johann war in der Dunkelheit hell erleuchtet, keine Verdunkelung in der Nacht, wie sie es in Stettin gewohnt war.

Konstanz blieb, obwohl auch Industriestandort, anders als andere Städte am Bodensee wie zum Beispiel Friedrichshafen von alliierten Bomberangriffen verschont. Im sogenannten Bomber’s Baedeker wurde die Industrie von Konstanz – von einigen aufgeführten Ausnahmen abgesehen – als „unbedeutend“ beschrieben. Auch die Schweiz hatte vom 7. November 1940 bis 12. September 1944 eine Verdunkelungspflicht angeordnet. Die dortige Verdunkelung wurde wegen der Gefahr versehentlicher Angriffe auf Schweizer Städte am 12. September 1944 durch den Bundesrat aufgehoben.
Dazu führte auch die, gemäß alliierter Verlautbarungen, irrtümliche Bombardierung von Schaffhausen am 1. April 1944. Daraufhin wurde von deutscher Seite die Verdunkelung der linksrheinischen Altstadt von Konstanz aufgehoben. So wurde die nicht offensichtliche Grenzlinie zwischen der Konstanzer Altstadt und Kreuzlingen weiter verwischt. Nun setzte sich die schweizerische Regierung vehement für eine Verschonung der deutschen Stadt ein. Die rechtsrheinischen Stadtteile, die durch den Seerhein klar von Schweizer Gebieten abgetrennt sind, wurden weiterhin verdunkelt, aber trotz der Unternehmen wie Degussa und Stromeyer nicht angegriffen.
(https://de.wikipedia.org/wiki/Konstanz#Zeit_des_Nationalsozialismus)

Die Unsicherheiten 6. Oktober 1944 Betreuungskarte für Fliegergeschädigte

Eine Postkarte mit einer Abbildung von Pforzheim schreibt Raimund im September 1944 an seine Frau Christa, (17a) Konstanz, St. Johann Mutter-u. Kindheim. Die Adresse zeigt die neu eingeführte Postleitzahl für das Gebiet Baden (17a).

 Am 19. Oktober 1943 erschien eine »Anweisung für den Briefverteildienst« mit der allgemein verbindlichen Einführung von 32 Leitgebieten im zivilen Postverkehr. Anfang 1944 wurde die Bevölkerung aufgerufen, die Postleitzahl bei allen Postsendungen – auch Briefen – zu verwenden.

 … Ich schreibe Dir heute nur ein paar Zeilen, weil ich gar nicht weiß, ob meine Post (Dich) erreicht, worüber ich tief beunruhigt bin. Wie du weißt, rückt unser Bataillon in den nächsten Tagen schon nach dem Südosten ab. Von Stn (Stettin) habe ich noch immer nicht den Bombenschein. Ich fahre dann von unserem neuen Standort nach Stn. Nun sei herzlichst gegrüßt u. aus der Ferne ein Kuß von Tränen. Ich bitte dich, sei mutig u. zuversichtlich! Ich weiß, dass die Zukunft uns noch das bis jetzt vorenthaltene Glück im Kreis unserer lieben Kinder schenken wird. …

Unterwegs in den Norden

Am 6. Oktober 1944 holte Vater Raimund in Stettin– unterwegs mit seinem Bataillon (M) 275 – den offiziellen Bombenschein ab, Betreuungskarte für Fliegerschädigte – Totalschaden mit u. a. dem Vermerk Fliegerangriff: 30.8.44 und handschriftlich 1 Koffer 75 cm. 

In diesem Köfferchen befanden sich das Deutsche Einheits-Familienstammbuch. Nach dem Runderlass des Preußischen Ministers des Innern vom 14. Februar 1926  …  soll tunlichst das vorliegende Einheitsstammbuch durch die Standesbeamten ausgehändigt werden, besagt die Einführung. Schon zu dieser Zeit wird im Vorspann Zum Geleit – Sippenforschung, Die Familie im Dienst der Rassenhygiene der Kern des Rassendenkens in die jungen Familien gelegt.
Wir finden Eintragungen der jungen Familie, wie die 1934 in Berlin vollzogene Heirat und die Geburten in Berlin der Kinder Bodo und Anita. Meine Geburt in Stettin 1942 vor der Evakuierung war nicht mehr eingetragen. Die Original-Geburtsurkunde, ebenso Originaldokumente von den verschiedenen Kirchenspielen, datiert im Oktober 1934, galten noch immer als wichtiger Nachweis ihrer arischen Herkunft, nicht nur damals für ihre Heirat in Berlin im Dezember 1934.
Weitere Dokumente aus den Jahren 1924 bis 1939, Originale der Schul- und Ausbildungszeugnisse, Arbeitszeugnisse aus den Jahren 1929 bis zu der Geburt ihres Sohnes Bodo 1936 (von den Arbeitsstellen wie Kaufhof, Leonhard Tietz, Ritzewoller …), Versicherungsnachweise 1930 -1938, ebenso Fotos und Postkarten, Zeugnisse aus glücklichen Friedenszeiten wurden eingepackt. Diese Unterlagen zur sicheren Dokumentation von Schul- und Ausbildungen, Anwartschaften und lebenswichtige Nachweise für Ihre ungewisse Zukunft, jedoch auch Memorabilien fanden sich wieder im Nachlass meiner Mutter und helfen mir, ihre Lebenswege und -stationen nachzuvollziehen – wie nun hier auch dokumentiert ihre Evakuierung 1943 im Zweiten Weltkrieg von Stettin Pommern nach Konstanz Südwestdeutschland.

Weihnachten 1944 – gestrandet im Mutter- und Kindheim Domhotel St. Johann
Wie überall im Krieg sind die Frauen mit den Kindern von den Vätern getrennt, so auch zu Weihnachten, wie schon 1942 im mit Bomben angegriffenen Stettin mit drei Kindern, im Alter von zwei Monaten, drei und sechs Jahren. Wie oft riss sie uns aus den Betten bei dem Sirenengeheul, um im Keller mit den anderen Bewohnern Schutz vor den Bombenangriffen zu suchen, und ich schrie die ganze Zeit, wie meine Mutter später berichtete. 1943 in Singen mit den drei Kindern und 1944 in Konstanz im Mutter- und Kindheim St. Johann, allein mit den vier Kindern, und der Vater im hohen Norden sich noch mit Zuversicht für sein Vaterland einsetzte. Die britische Strategie, die Moral der Zivilbevölkerung durch  nächtliche Bombenangriffe auf die (Industrie-)Städte zu schwächen, ging nicht auf.

8. Mai 1945 Kriegsende
Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endeten die Kampfhandlungen in Europa am 8. Mai 1945; ab Juli 1945 wurden die südwestdeutschen Gebiete der britischen und amerikanischen Besatzungszone gemäß Berliner Erklärung und Zonenprotokoll vom 5. Juni 1945 an die Franzosen übergeben.
Am 26. April hielten die Franzosen mit ihren Panzern über die Rheinbrücke ratternd Einzug in Konstanz. Obwohl ich erst zweieinhalb Jahre alt war, meine ich mich zu erinnern, auf dem Münsterberg (unweit von unserem Wohnplatz St. Johann) mit meiner Schwester, fast zwei Jahre, stehend, die Panzer von der Niederburg/dem Münsterplatz kommend in Richtung Marktstätte beobachtet zu haben. Wir schauten einfach nur zu. Eine Bedrohung empfanden wir nicht.

Eine kleine Episode nach den ersten Tagen des Einzugs, erzählt von meiner Mutter. Als die Franzosen darunter auch farbige Soldaten sich in Konstanz eingefunden hatten, sah sie mich eines Tages auf der Straße in der Nähe des Münsterplatzes, wo wir Geschwister freien Lauf hatten, auf dem Schoß eines Schwarzafrikanischen Soldaten. Voller Begeisterung fütterte er – sehr dunkelhäutig – mich, hellrotes Haar und naturgegeben sehr hellhäutig –  mit Schokolade. Das Bild musste sehr kontrastreich gewesen sein. Und er staunte über meine großen hellen Augen.

Vereint in Konstanz
Etwa ein halbes Jahr nach Kriegsende kehrte Vater Raimund aus der Kriegsgefangenschaft zurück.

Am 18. Oktober 1945 erhält Raimund, in der Gütlestraße 8 wohnend, für seine Familie vom Gouvernement Militaire de Constance 455,- Mark für 2 Betten, 2 Kommoden, 2 Stühle, 2 Sessel, 2 Nachttische und am 19. Oktober 150 Mark für 2 Schränke. Diese Möbel wurden 1946 in der „Wohnung“ zum Hohen Haus in der Zollernstraße 29 eingerichtet.
Für Anita, die älteste Tochter von 6 Jahren, wird ein Passfoto erstellt, für einen Ausweis (?).

1946 – Der Start in eine ungewisse, geschädigte Zukunft
Für die sechsköpfige Familie wurde von der Stadt eine Wohnung gesucht.

Ab 5. Dezember 1945 konnte die Stadt über das Lager Egg verfügen. Bis Mitte Januar 1946 waren die Baracken provisorisch für die Einquartierung der Flüchtlinge hergerichtet. Das Inventar bestand aus ca. 500 Luftschutzbetten, aus Strohsäcken, Tischen und Bänken, Heizöfen und Lampen waren noch nicht komplett vorhanden Wolldecken fehlten ganz. Doch zunächst kamen noch keine Flüchtlinge. Am 2. August war es dann soweit, um 19 Uhr trafen die ersten 107 Flüchtlinge aus Ostpreußen auf dem Konstanzer Bahnhof ein.

Eigentlich sollte die sechsköpfige Familie in das Flüchtlingslager in Konstanz-Egg untergebracht werden.
Jedoch wehrte sich meine Mutter mit Händen und Füßen dagegen, wie sie später erzählte. Seit Ende 1944 war sie schon in Konstanz.
Am 1. Februar 1946 unterschreiben meine Eltern den Miet-Vertrag, am 16. April 1946 wird der Mietvertrag vom Oberbürgermeister und am 16. Mai vom Wohnungsamt genehmigt. Vermietet werden im Hause Nr. 29 der Zollernstraße eine Wohnung im 4. Obergeschoß südöstlich bestehend aus 2 Zimmern.

Zum Hohen Haus
Die »Wohnung« für sechs Personen im 4. Obergeschoss bestand aus 2 Zimmern – 1 Ofen im Wohn-/Schlafraum, 2 Betten, 1 Sofa, 1 Esstisch; „Küche“ 1 Kohle-Herd, 2 Betten, 1 Esstisch und 1 Waschtisch mit Schüssel); im Treppenhaus im Flur zur Dachterrasse 1 kleines Waschbecken mit fließend kaltem Wasser, ebenso der gemeinsame Abort für  weitere Bewohner von fünf (Einzel)Zimmer auf dem Stockwerk. Die Küche mit gemeinsamer Benützung war im 1. OG für alle Parteien des vierstöckigen Hauses. Das Hohe Haus wurde u. a. auch vom Kolpinghaus Konstanz als Lehrlingsheim genutzt und sie bewirtschafteten die Wohnung und Mahlzeiten für die Lehrlinge. Es war keine abgeschlossene Wohnung, wie wir sie kennen mit zusätzlichem Wohnungseingang. Noch heute träume ich davon, dass die Zimmer nicht (richtig) verschlossen waren und der Zugang fremder, nicht befugter Menschen möglich war.

Zum Hohen Haus, Konstanz Zollernstraße 29, Foto 2013

1948 Autorisiation de séjour en Zone Français d’Occupation – Aufenthaltserlaubnis in der Französischen Besatzungszone

Das letzte Familienfoto einer brüchigen, überforderten Beziehung.

Es war zu eng, sechs Personen in zwei Räumen. Im August 1947 zog Raimund aus der »Wohnung« im Hohen Haus aus und nahm sich ein eigenes Zimmer in der Talgartenstraße. Am 8. Oktober 1947 erhebt er Scheidungsklage. Am 11. Februar 1948 erhielt die gesamte Familie, gegenwärtig in Konstanz wohnend, die Aufenthaltserlaubnis begrenzt auf ein Jahr. Auch als deutsche Familie war eine Aufenthaltserlaubnis durch die französischen Besatzer in der deutschen Stadt Konstanz notwendig. Diese Erlaubnis soll für die Erstellung eines »Meldebogens« dem Denazifizierungsdienst unverzüglich vorgelegt werden.
Es gibt keine zurück in die alte Heimat Stettin. Diese Stadt ist zerstört, auch die Gutenbergstraße, in der wir wohnten, gibt es nicht mehr. Pommern war unter polnischer Verwaltung.

Gelingt es, in Konstanz Wurzeln zu schlagen?
Mutter Christa ging zur Arbeit, um für sich und zum Unterhalt für die vier Kinder ausreichend zu sorgen.
Die Zollernstraße befindet sich im Zentrum von Konstanz und die Geschäfte des Alltags und die Schulen für die Kinder waren in ausreichender Laufnähe. Trotz Straßenverkehr war die Zollernstraße das Spielparadies für die Kinder, besonders der Torbogen – Zum Hohen Gewölbe – gab Schutz bei jedem Wetter für alle dort spielenden Kinder. Aus heutiger Sicht konnte die Integration der deutschen Kinder im Hohen Haus aus dem deutschen Stettin in Hinterpommern nicht besser gelingen, trotz dass es hieß es: Die sind aus Polen, ihr dürft nicht mit diesen Kindern spielen!

Die Zollernstraße mit dem Hohen Haus Nr. 29, linker Hand Hausnummer 27 Zum Hohen Gewölbe.

… heute …
Vor Corona, vor 2020 – zu unbeschwerten Zeiten – trafen sich, aus allen Himmelsrichtungen nach Konstanz anreisend, die ehemaligen Zollernsträßler (bis zu 45 Mitglieder)– jedes Jahr in der Patronentasche im alt ehrwürdigen Konzil und freuten sich auf den Austausch miteinander.

… und die ukrainischen Geflüchteten in Deutschland?
Millionen von ukrainischen Geflüchteten drängt es – trotz unaufhörlicher Angriffe und Kämpfen in ihrem Land, trotz großer Willkommens-Bereitschaft und Unterstützung in Deutschland – in ihre Heimat und ihren vertrauten Umgebungen und Beziehungen mit und zu Menschen in der Ukraine. Heimat und Kultur sind nicht ersetzbar.

Ende Teil 2

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Dagmar Stange
Juli 2022

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