1942 Vor 80 Jahren, eine Evakuierung aus Stettin/Pommern – Teil 1  |
Ein Rückblick unter den Eindrücken des Verlaufs des russischen Krieges in der Ukraine

Geschwister Bodo und Anita 1941 Stettin Turmstraße 3

Unzählige Nachrichten, Berichte und Bilder über die Ukraine – den Staat, das Land, die Bewohner – bringen (Gesprächs)Erinnerungen in unsere Wohnungen, die tief verschüttet waren bei den Kriegs- und Nachkriegsgenerationen. Die aufwühlenden Bilder von heute zeigen lebhaft und konkret, sehr real und schonungslos das Kriegsgeschehen, Zerstörungen. Wir sehen die Fluchten, Vertreibungen, Verstörungen unzähliger Menschen, Kinder, Frauen und Männern und verbinden diese Bilder mit den Erinnerungen in unseren Familien in den Kriegs- und Nachkriegszeiten, wie die Flucht aus der Bedrohung damals für unsere Mütter, (Ur-)Großmütter gewesen war. Die Männer waren ja meist noch im Krieg oder in Gefangenschaft. Wenig haben wir früher darüber gesprochen – dann war es zu spät, als wir sehr viel mehr erfahren wollten.

So versuche ich mit der verbliebenen Hinterlassenschaft aus meiner Familie, den wenigen Gesprächsfetzen, das Puzzle zusammenzufügen und so die Kriegsjahre und die Evakuierung meiner Mutter Christa bis in die Jahre ihres Fußfassens in den Nachkriegsjahren zu rekonstruieren. Die Heimat verloren und alle familiären Bindungen unterbrochen durch die Entfernung von mehr als 1000 Kilometer, bereichert und gleichzeitig belastet mit vier Kindern.

1941 Mutter Christa mit meinen Geschwistern Anita drei Jahre und Bodo fünf Jahre

Die Entwurzelten, eine Familie wie viele Millionen
Jung und hübsch war sie – Christa, meine Mutter, 27 Jahre, kupferrotes Haar –  hier auf dem Foto von 1941 in Stettin, während der deutsche Angriffskrieg in Polen wütete. Raimund, ihr Mann, war ganz verrückt nach ihr, als er sie 1932 im Friedrichspalast in Berlin zum ersten Mal sah und sie per Tischtelefon zum Tanzen aufforderte. Im Dezember 1934 heirateten Raimund und Christa in der Zionskirche in Berlin-Mitte und sie wohnten nicht weit davon in der Veteranenstraße. Nun zwei Kinder Bodo 5 Jahre, Anita 3 Jahre, beide in Berlin geboren.
Christa hatte ihren Vater nie richtig kennengelernt. Er war im Juni 1916 im 1. Weltkrieg bei Ypern, Wytschaete, Belgien in der Flandernschlacht  »im blühenden Alter von 23 Jahren« gefallen, wie ihre trauernde Mutter in Belgard/Hinterpommern damals anzeigte. Dort, in Belgard, wurde Christa 1913 geboren. Später, in Berlin aufgewachsen, hat sie die aufregenden Roaring Twenties, ihre schönsten Jahre, erlebt.

Wege der Familie während des Krieges

Nach Stettin
1939, am 1. September der Angriff Deutschlands auf Polen. Christas jüngerer Bruder Werner verliert schon am 13. September bei Bednary 23-jährig sein Leben. Die Mutter, Ida, lebte im gleichen Haus in der Veteranenstraße, so mussten beide Frauen den Verlust verkraften. Christa war hochschwanger mit ihrem zweiten Kind Anita (geboren Anfang Oktober). 1940 führte  der Einsatz den Elektro-Ingenieurs Raimund die Familie nach 15 Jahren von ihrem geliebten Berlin in die Hafenstadt Stettin, wo die vierköpfige Familie in der Gutenbergstraße lebte. Gerne verbrachte sie die sommerlichen Tage im nahliegenden Eckerberger Wald.

In Stettin
Es waren kurze Jahre des familiären Zusammenseins in diesem Krieg in Stettin.

Es dauerte nicht lange, da begann am 11. Mai 1940 der Luftkrieg der Royal Air Force gegen die deutschen Städte. Im Herbst 1941 startete die Bombardierung auf Stettin. Nicht lange währte für die neue Familie in Stettin die friedliche Zeit. Im engen Zeittakt erfolgten die Bombardierungen auf die Stadt:

19./20.09.1941 Angriff des RAF Bomber Command auf Stettin
29./30.09.1941 Luftangriff des RAF Bomber Command auf Stettin
01.10.1941 Nachtangriff des RAF Bomber Command auf Stettin

Die Area Bombing Directive (»Anweisung zum Flächenbombardement«) wurde am 14. Februar 1942 vom britischen Luftfahrtministerium herausgegeben. Ziel war es, die Einsätze auf die Moral der feindlichen Zivilbevölkerung zu konzentrieren – insbesondere auf die der Industriearbeiter. Sie begannen mit dem Nachtangriff auf Essen am 8. und 9. März 1942. Dieser Strategie der Flächenbombardierung lag die Annahme zugrunde, das Bombardieren von Wohngebieten anstelle militärischer Anlagen würde den Kampfwillen der Zivilbevölkerung schwächen. Es wird heute allgemein angenommen, dass diese Strategie zum exakt entgegengesetzten Ergebnis führt.
(https://de.wikipedia.org/wiki/Area_Bombing_Directive)

Oktober 1942 Stettin Geburt Dagmar
Dort, im durch die Bombenhagel angegriffenen Stettin, wurde ich im Oktober 1942 in der Landes Frauenklinik als drittes Kind der Familie geboren. Auf dem Foto vor dem Haus hält mich meine 3-jährige Schwester Anita im kalten Winter fest im Arm.
Mein Mann war im Jahre 1942 bereits nach Singen übergesiedelt und hatte dort eine Arbeit angenommen. (Christa in einem Protokoll)

14. Dezember 1942
Postkarte Raimund an seine Christa in Stettin

23. Februar 1943 Singen
Vater Raimund schreibt aus Singen nach Stettin, eine Ansichtskarte der Hegauberge, an Christa.
… In meinem Weihnachtspäckchen habe ich, glaube ich, meine Badehose (braun) mitgeschickt. Falls ja, sende sie doch gleich her. Sonnabend ziehe ich um, schönes Zimmer, 30,-. Etwas weit allerdings Rad wäre entschieden günstig. Ist Weihnachten die Klapper für Dagmar überhaupt angekommen. 

20./21. April 1943 Luftangriff auf Stettin
In der Nacht vom 20.04.1943 auf den 21.04.1943 fliegt der RAF Bomber Command mit 339 Flugzeugen einen Luftangriff auf Stettin. Meine Mutter berichtete, wie sie mich, sechs Monate alt, unter dem Sirenengeheul aus dem Bett riss und mit meinen beiden Geschwistern, Bodo sechs und Anita drei Jahre alt, aus der Wohnung in den Luftschutzkeller floh. Du schriest die ganze Nacht, erzählte sie weiter.

7. August 1943 Bescheinigung
Die Angriffe und Schäden in der Stadt waren so heftig und die Bedrohung weiterer Angriffe so gefährlich nah, so dass »eine vorsorgliche Umquartierung« für die Familie (die Mutter mit Ihren drei Kindern) organsiert werden musste.
Ausgestellt wurde am 7. August 1943 die Bescheinigung zur vorsorglichen Umquartierung zum Verwandten »Mann […] Raimund nach Singen am Hohentwiel, Luisenstr. 8«.

Am 7. 8. 1943 wird das erlösende Dokument im Inferno der Bombardierung in Stettin ausgestellt

August 1943 von Stettin nach Singen
Ein kleiner Koffer von 75 cm, das war das Gepäck bei der Evakuierung einer Mutter mit den drei Kindern, auf der Reise von Stettin nach Singen quer durch das Deutsche Reich, was ca. 1000 km entspricht. Auf der Rückseite dieser Betreuungskarte wurde vermerkt eine Entschädigungssumme vom 1.000 RM (Reichsmark) für den Totalschaden – am gesamten Hausrat einer fünfköpfigen Familie mit drei Kindern.
Selten sprachen wir rückblickend über die Kriegsjahre. Doch an einige Gesprächsfetzen erinnere ich mich. Ich wurde gut behandelt, erzählte sie unaufgefordert. War es aufgrund der Bescheinigung zur Umquartierung, die aufforderte: Es wird gebeten, den Obengenannten jede Hilfe zuteil werden zulassen. Dieser Schein berechtigt zum Antrag auf Räumungs-Familienunterhalt?

Im August 1943 in Singen
Während Mutter Christa mit den drei Kindern in Singen verweilte, ging Vater Raimund im Dezember 1943 nach Konstanz und arbeitete in einem Geschäft für Radios.

1944 Bombardierungen auf Stettin
Die Bomben fielen weiter auf Stettin. In der Nacht vom 05.01.1944 auf den 06.01.1944 warfen 348 Flugzeuge des RAF-Bomber Command 1118 t Bomben auf Stettin. 90 % der Altstadt und 70 % der restlichen Stadt lagen danach in Asche. Am 30. August 1944 erfolgten Fliegerangriffe, die auch die Gebäude in der Gutenbergstraße endgültig zerstörten.
Aus einem Protokoll vom 9. März 1953:
Der Entschädigungsanspruch des gesamten Hausrats besteht aus:
1 Wohnzimmer, 1 Doppelschlafzimmer, 1 Kinderzimmer mit 1 Bett und 2 Kinderbetten, 1 Fremdenzimmer, Küche und Diele, Einrichtung, Kleider, Wäsche usw.

1944 Singen
In Singen aufatmen und sich sicherer fühlen wollte man, jedoch fielen auch in der Umgebung von Singen die Bomben bei der Bombardierung von Schaffhausen (Luftlinie 19 km). Am 1. April 1944 erfolgte der folgenschwerste Angriff in der Geschichte des schweizerischen Bundesstaates. Es kamen 40 Menschen um und 270 wurden zum Teil schwer verletzt. Dieser wird offiziell auf einen Navigationsfehler zurückgeführt.

Im Mai wurde Vater Raimund in Pforzheim zur Wehrmacht, Bataillon (M) 275, eingezogen und im Juni wurde das vierte Geschwisterchen im Singener Krankenhaus geboren. Nach den Erzählungen meiner Mutter – ich war sieben Monate alt, plötzlich alleine ohne anwesende Mutter, schrie ich die ganze Nacht. Damit ich aufhörte, hielt mich die Krankenschwester unter das kalte Wasser vom Wasserhahn, so dass ich vor lauter Schreck verstummte und dabei die Stimme verlor und nur noch lallte. Es dauerte, bis ich die Stimme mit der Geduld meiner Mutter wiederfand.

Singen hat vom Bombenkrieg des 2. Weltkrieges mit nur 6 Angriffen zwischen dem 17.10.1944 und dem 21.4.1945 glücklicherweise wenig abbekommen, wenn gleich nahezu 40 Tote zu beklagen waren. Nach allen bisher gesammelten Informationen kann man davon ausgehen, daß im Gegensatz zu anderen Industriestädten die Singener Rüstungsunternehmen MAGGI, Georg Fischer und Aluminium-Walzwerke – und damit auch deren Umfeld – nur deshalb verschont geblieben sind, weil diese Unternehmen zum schweizerischen Kapital gehörten.

Ende Teil 1

Dagmar Stange
Juni 2022

Wenn Sie mögen, leiten Sie die DSS. ZFD News gern an Ihre Familie, Freunde sowie Kollegen weiter. Haben Sie diese Ausgabe weitergeleitet bekommen, können Sie den Newsletter unten auf unserer Website kostenlos abonnieren.